Routine oder Abwechslung? Zahlen oder Worte? Bürojob oder Kontakt mit Menschen? Auf einem Fragebogen hätte Anne Wellmann ihr Kreuz jeweils bei der zweiten Antwort gesetzt. Seit einem Jahr ist die 35-Jährige als Schulpfarrerin am Rhein-Maas-Berufskolleg tätig. Hier bereitet sie Azubis auf Beruf und Leben vor und hat als erfahrene Seelsorgerin ein Ohr für Menschen in Belastungssituationen. Reden kann sie ebenfalls gut: Die Theologin predigte nicht nur in vielen evangelischen Gemeinden, sondern hospitierte als Vikarin auch beim Hörfunk des WDR. Wie vielseitig der Beruf ist, warum ihr Dackel Karl heißt und was in Haiti passieren soll, verriet sie uns für die Serie „Wie wird man eigentlich …“
„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott.“ Dieser Satz aus der Bibel hat Christen, Andersgläubige und Dichter wie Goethe gleichermaßen inspiriert. Der Glaube und die Lust am Wort begleiten auch Anne Wellmann schon seit ihrer Kindheit in Moers: „Bei uns zu Hause wurde viel gebetet, wir waren Mitglied in einer evangelischen Kirchengemeinde und oft haben wir gemeinsam in der Küche Radio gehört. Wenn die Morgenandachten liefen, rätselten wir immer mit, ob der Beitrag von der katholischen oder evangelischen Kirche kam.“ Die junge Pfarrerin lächelt und spricht mit einer klaren, ruhigen Stimme, die man sich gut auf einer Kanzel oder im Hörfunk vorstellen kann.
Schon als sie 14 Jahre alt war und auf die Konfirmation vorbereitet wurde, habe sie gewusst, dass sie einen Beruf ergreifen würde, in dem es um Menschen geht. „Ich wurde als Jugendliche mit meinen kritischen Fragen sehr ernst genommen und verbrachte meine ganze Freizeit in der Kirchengemeinde“, resümiert die Theologin. So übernahm sie als Schülerin bereits Aufgaben, die eine wichtige Basis der Jugendarbeit darstellen: Gruppen leiten, Kirchenfreizeiten und Kindergottesdienste gestalten oder Konfirmanden unterrichten. „Die gute Gemeinschaft hat mich geprägt – was sie trägt, woran sie glaubt“, berichtet sie strahlend. „Außerdem hörte ich gern die Predigten und konnte mir vorstellen, selbst vor den Leuten zu stehen und authentisch zu ihnen zu sprechen.“
Die Niederrheinerin geht – genau wie Dr. Faust in Goethes Drama – auf die Suche nach dem, was die „Welt im Innersten zusammenhält“ und beginnt ein Studium der Theologie. „Zum Glück hatte ich die drei alten Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch schon in der Schule und konnte direkt in die Grundlagen einsteigen“, erinnert sie sich mit einem breiten Grinsen. „Denn diese Anforderung ist für manche ein echter Kracher, vor allem Altgriechisch!“ In Deutschland gibt es 19 Universitäten und zwei kirchliche Hochschulen, die Evangelische Theologie anbieten. Wer bereits ein anderes Fach studiert hat und mit dem Gedanken spielt, Pfarrer oder Pfarrerin zu werden, kann berufsbegleitend den Studiengang „Master of Theological Studies (M.Th.S.)“ absolvieren.
„Weil Wechseln dazu gehört“, besucht Wellmann drei Hochschulen – in Münster, Bonn und Wuppertal – und setzt sich im Studium intensiv mit Zweifeln, Sinnfragen und Fakten der Wissenschaft auseinander. Die mutigen Ansichten des Schweizer Theologen Karl Barth beeindrucken sie so sehr, dass sie ihren Rauhaardackel nach ihm benennt. Noch heute drehe sie mit Karl täglich eine „schöne Runde“ am Hülser Berg. Zum Studienende ist ihr endgültig klar, dass sie Pfarrerin werden will: „Wer mit Menschen seelsorgerisch arbeiten möchte, kann ja auch Psychologie, Sozialwissenschaften oder auf Lehramt studieren. Für mich sind aber zwei Aspekte besonders reizvoll: Dass ich das als Frau machen kann und dass der Beruf wirklich alle Lebenssituationen abdeckt: von der Wiege bis zur Bahre.“ Erst am 1. September 1958 hatte die Lübecker Kirche ein Gesetz erlassen, das es evangelischen Frauen erlaubte, Pfarrerinnen zu werden. „Der Herr Pastor ist – eine Frau. Ein Ereignis von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“, titelte die Illustrierte „Quick“ damals. Die katholische Kirche hat wohl nicht nur bei diesem Thema großen Nachholbedarf, denn sie lässt bis heute nur Männer diesen Beruf ergreifen. Dabei leisteten alle einen wertvollen Beitrag zur Gemeinschaft, betont Anne Wellmann: „Insbesondere an Wendepunkten und in Lebenskrisen stehen wir Menschen mit Rat und Tat sowie einem offenen Ohr zur Seite. Wir können Hoffnung machen, uns mitfreuen und oft auch Schweres mit aushalten.“ Und da sollte das Geschlecht nun wirklich keine Rolle spielen.
Nach dem Examen führt sie das Vikariat nach St. Tönis, wo sie zwei Jahre lang praktisch ausgebildet wird in Bereichen wie Gottesdienst, Gemeindearbeit, Religionsunterricht, Kirchenrecht oder Pfarramtsverwaltung. Wellmann macht neue Erfahrungen: „In der Grundschule allein zu unterrichten, war aufregend für mich, anfangs war ich etwas nervös. Doch ich habe gelernt, die komplexe Sprache der Universität theologisch ganz einfach zu formulieren.“ Die Predigten der angehenden Pfarrerin werden von der Gemeinde geschätzt, aus gutem Grund: „Sie sollen informativ sein, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Sie sollen ins Herz gehen, damit man etwas mit nach Hause nehmen kann“, erklärt Wellmann. Diese Herzenswärme merkt man auch den Radioandachten an, die sie seit 2017 in Zusammenarbeit mit „Kirche im WDR“ produziert. In den lebensnahen Texten geht es beispielsweise um Hoffnung, Türmomente, Umzüge oder sie selbst als „Taschenchaotin“, die vor der Reinigung steht und den Talar ausräumen muss, weil die Taschen noch vollgestopft sind mit Batterien, Bonbonpapier, einem Wattebausch und einem gehäkelten Engel. Das klingt nach einem bunten und vielseitigen Leben als Pfarrerin. Gut sieben Jahre verbringt sie nach der Ordination in Gemeinden wie Köln, Moers und Rheinhausen, kümmert sich um Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen genauso wie um Verwaltungsaufgaben und Pandemieprobleme, bis ihr eine Stellenausschreibung des Berufskollegs Rhein-Maas auffällt und einen alten Herzenswunsch reaktiviert.
„Ich wollte wieder mehr Zeit haben, um mit jungen Menschen über Themen des Glaubens zu sprechen“, sagt sie auf ihre unaufgeregte Art. „Man kann von der Jugend lernen, dass es nicht weh tut, sich zu verändern. An der Berufsschule reizt mich die Streuung in den Klassen, was Konfessionen, Vorbildung und Berufe angeht, auch wenn ich altersmäßig etwas eingeschränkter bin als früher.“ Seit einem Jahr unterrichtet Wellmann Schüler in Kempen und Lobberich im Fach „Evangelische Religion und andere Konfessionen“. Und freut sich über die Herausforderung, immer „hochkonzentriert“ sein zu müssen, da jede Klasse andere Bedürfnisse und Fragen hätte.
Noch mehr beeindruckten sie jedoch das Engagement und die Zuversicht der Schüler, wie sie mit hörbarem Stolz und leuchtenden Augen anmerkt. „Dass ich jetzt Schulfahrten begleite, wie die Fahrt zur Menschenrechtsdemo in Berlin mit 250 Leuten, das ist schon der Knüller!“ In den Osterferien gehe es mit einigen Auszubildenden hoffentlich wieder nach Haiti, um für drei Wochen Schulen sowie Waisenhäuser zu bauen. Pfarrer Roland Kühne hatte 2010 das Projekt „Schüler bauen für Haiti“ ins Leben gerufen, nachdem im Religionsunterricht einer Maurerklasse die Idee entstanden war, nach dem schweren Erdbeben pragmatische Hilfe in das Land zu bringen. „Meine nächste Radioandacht werde ich diesem Thema widmen, weil es mich sehr berührt, wie engagiert die Schüler hier sind.“ Jetzt kratzt die Stimme fast ein wenig.
In Goethes Theaterstück beschäftigt sich Dr. Heinrich Faust auch mit der Übersetzung des oben erwähnten Bibelzitats. Denn das griechische Wort „logos“ hat viele Bedeutungen: Wort oder Sinn oder Kraft oder Tat. Faust entscheidet sich schließlich für „Am Anfang war die Tat“. Und Anne Wellmann hat für ihr Leben einfach alle Optionen gewählt.
Spendenkonto: Schüler bauen für Haiti e.V.
DE90 3206 1414 0530 2790 14
BIC: GENODED1KMP (Volksbank)